Sammelrezension in "Die Brücke", Nr. 1/2003, S. 142f.

der Bücher "Ab 18" - Band 1 und 2 (Hrsg. Roland Seim/Josef Spiegel)
sowie "Zwischen Medienfreiheit und Zensureingriffen" von Roland Seim.

Da diese Buchbesprechung von Michael Klarmann nicht im Netz stehen, reproduzieren wir hier einen Scan der Seite als jpg.

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Die Brücke #127
Eine Zensur findet schlicht statt

Als 1966 bei der Leichtathletik-Europameisterschaft in Budapest die National-hymne der Deutschen Demokratischen Republik gespielt wurde, blieb es im Westfernsehen ungewöhnlich ruhig. Dem Fernsehzuschauer wurde während der Übertragung per Texteinblendung mitgeteilt, es handele sich um eine
»Tonstörung«. Wollte die ARD ihren Zuschauern die Hymne der DDR ersparen?
Wurde hier zensiert?

Zensur hat viele Facetten, und eigentlich soll es sie in der Bundesrepublik
Deutschland nicht geben. Denn die BRD-Gründerväter schrieben als Lehre aus
der Geschichte in den Artikel 5 des Grundgesetzes: »Eine Zensur findet nicht
statt.« Jedoch ergänzten sie: Meinungsfreiheit, Kunst und Forschung unter-liegen dem Jugendschutz, der Verfassung oder der Amtskirche. Zensur kann also stattfinden, davon betroffen sind Bücher, Musik, Filme, das Internet und Computerspiele. Dies dokumentieren Roland Seim und Josef Spiegel seit Anfang der 90er Jahre mit gesammelten Exponaten, Original-dokumenten und Fallbeispielen in der Wanderausstellung »Ab 18«, im dazugehörigen Katalog und einem Bildband. Die nun aktualisierte Fassung von »Der kommentierte Bildband zu ðAb 18Ы zeigt auch Fälle zensorischer Eingriffe bei Verletzungen der Persönlichkeitsrechte und Verstöße gegen den Markenschutz. Collagen-künstler, Satiremagazine oder Buchautoren müssen sich heute mehr denn je mit Rechtsanwälten auseinander setzen.

Als 1968 die Behörden eine Ausgabe der Zeitschrift Pardon wegen ihres
barbusigen Covergirls auf den Index setzen, verdeutlichte das noch eine fast
pubertär moralisierende Republik. Heute betreffen Zensur und Indizierungen
eher Horrorfilme, Nazi-Propaganda oder Kinderpornografie. Während bei
letztgenanntem vehemente Zensurgegner einknicken, zeigen Zensur-bemühungen von »Nazi-Propaganda« wiederum, dass gut gemeint nicht immer gut genug ist. So ließ die Staatsanwaltschaft Meiningen 1996 über 1.000 Buchhandlungen in Deutschland durchsuchen. Dabei ging es zum einen um vermeintlich Gewalt verherrlichende und pornografische Comics von Serien wie »Schwermetall« und »U-Comix«. Gleichfalls gingen die Behörden aber auch gegen das Comic »Maus« des Pulitzerpreisträger Art Spiegelman vor, dessen Cover auch ein großes Hakenkreuz ziert. Spiegelman schildert in der Bilder-geschichte das Schicksal seines Vaters im Konzentrationslager Auschwitz. Die Nazis werden als Katzen, die Juden als Mäuse dargestellt.

Nicht nur die eigentliche Nachzensur oder das rechtliche Vorgehen gegen
inkriminierte Produkte empfinden Seim und Spiegel als problematisch. Sowohl
gesellschaftliche, politische und religiöse Vorstellungen führen zur »Schere
im Kopf«. Zudem sind nahtlose Übergänge zwischen Zensur und Manipulation
festzustellen. So legt etwa die Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) den Filmverleihern und -produzenten Spielfilmkürzungen um jugend-gefährdende Szenen nahe, da niedrigere Altersfreigabe mehr Zuschauer und Erträge garantieren. Comic-Verlage verdecken mit zusätzlichen Sprechblasen in deutschen Ausgaben Gewaltszenen aus den Originalversionen. Und nicht nur Stalin ließ ihm unliebsame Personen auch aus seinem Foto-Umfeld tilgen, wie eines der rund 570 dargestellten Beispiele im Bildband beweist. Einem Agenturfoto von 1998 ­ es zeigt Bill Clinton, Helmut Kohl und Bernhard Vogel ­ fehlt etwa in einer Broschüre der Landesregierung Thüringen das Plakat im Publikum hinter dem Trio: »Ihr habt auch in schlechten Zeiten dicke Backen.«

»Die Gefahr der Zensur liegt (...) vor allem darin, dass ihre Mechanismen die Tendenz bergen, sich bei Erfolg (...) unbeachtet und wie selbstverständlich auszuweiten. Besonders wenn Aufmerksamkeit und Verständnis der Öffentlich-keit fehlen (...), besteht die Gefahr, dass auch wirklich relevante Medien und Äußerungsformen immer regressiver eingeschränkt werden,« schrieb Seim 1997 in seiner Dissertation über »zensorische Einflussnahmen auf bundes-deutsche Populärkultur« (Untertitel). Seine Untersuchung »Zwischen Medien-freiheit und Zensureingriffen« behandelt sehr ausführlich die deutsche und bundesrepublikanische Zensur-Geschichte. Seims Befürchtung: »Wer die Bilder und Texte beherrscht, die Produkte in einer obskuren ðblack boxÐ weitgehend unbemerkt manipulieren kann, hat die Macht.«

Licht in jenes Dunkel bringen die Ausstellung und Bücher. Da in ihnen auch
Zensurfälle aus der Pornografie und dem Genre des Splatterfilms dokumentiert
werden, empfiehlt der Verlag, sie Minderjährigen nicht zu überlassen.

Michael Klarmann

 

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