Eine Zensur findet
schlicht statt
Als 1966 bei der Leichtathletik-Europameisterschaft
in Budapest die National-hymne der Deutschen Demokratischen Republik
gespielt wurde, blieb es im Westfernsehen ungewöhnlich ruhig.
Dem Fernsehzuschauer wurde während der Übertragung per
Texteinblendung mitgeteilt, es handele sich um eine
»Tonstörung«. Wollte die ARD ihren Zuschauern die
Hymne der DDR ersparen?
Wurde hier zensiert?
Zensur hat viele Facetten, und eigentlich soll es
sie in der Bundesrepublik
Deutschland nicht geben. Denn die BRD-Gründerväter schrieben
als Lehre aus
der Geschichte in den Artikel 5 des Grundgesetzes: »Eine Zensur
findet nicht
statt.« Jedoch ergänzten sie: Meinungsfreiheit, Kunst
und Forschung unter-liegen dem Jugendschutz, der Verfassung oder
der Amtskirche. Zensur kann also stattfinden, davon betroffen sind
Bücher, Musik, Filme, das Internet und Computerspiele. Dies
dokumentieren Roland Seim und Josef Spiegel seit Anfang der 90er
Jahre mit gesammelten Exponaten, Original-dokumenten und Fallbeispielen
in der Wanderausstellung »Ab 18«, im dazugehörigen
Katalog und einem Bildband. Die nun aktualisierte Fassung von »Der
kommentierte Bildband zu ðAb 18Ы zeigt auch Fälle
zensorischer Eingriffe bei Verletzungen der Persönlichkeitsrechte
und Verstöße gegen den Markenschutz. Collagen-künstler,
Satiremagazine oder Buchautoren müssen sich heute mehr denn
je mit Rechtsanwälten auseinander setzen.
Als 1968 die Behörden eine Ausgabe der Zeitschrift
Pardon wegen ihres
barbusigen Covergirls auf den Index setzen, verdeutlichte das noch
eine fast
pubertär moralisierende Republik. Heute betreffen Zensur und
Indizierungen
eher Horrorfilme, Nazi-Propaganda oder Kinderpornografie. Während
bei
letztgenanntem vehemente Zensurgegner einknicken, zeigen Zensur-bemühungen
von »Nazi-Propaganda« wiederum, dass gut gemeint nicht
immer gut genug ist. So ließ die Staatsanwaltschaft Meiningen
1996 über 1.000 Buchhandlungen in Deutschland durchsuchen.
Dabei ging es zum einen um vermeintlich Gewalt verherrlichende und
pornografische Comics von Serien wie »Schwermetall«
und »U-Comix«. Gleichfalls gingen die Behörden
aber auch gegen das Comic »Maus« des Pulitzerpreisträger
Art Spiegelman vor, dessen Cover auch ein großes Hakenkreuz
ziert. Spiegelman schildert in der Bilder-geschichte das Schicksal
seines Vaters im Konzentrationslager Auschwitz. Die Nazis werden
als Katzen, die Juden als Mäuse dargestellt.
Nicht nur die eigentliche Nachzensur oder das rechtliche
Vorgehen gegen
inkriminierte Produkte empfinden Seim und Spiegel als problematisch.
Sowohl
gesellschaftliche, politische und religiöse Vorstellungen führen
zur »Schere
im Kopf«. Zudem sind nahtlose Übergänge zwischen
Zensur und Manipulation
festzustellen. So legt etwa die Freiwillige Selbstkontrolle der
Filmwirtschaft (FSK) den Filmverleihern und -produzenten Spielfilmkürzungen
um jugend-gefährdende Szenen nahe, da niedrigere Altersfreigabe
mehr Zuschauer und Erträge garantieren. Comic-Verlage verdecken
mit zusätzlichen Sprechblasen in deutschen Ausgaben Gewaltszenen
aus den Originalversionen. Und nicht nur Stalin ließ ihm unliebsame
Personen auch aus seinem Foto-Umfeld tilgen, wie eines der rund
570 dargestellten Beispiele im Bildband beweist. Einem Agenturfoto
von 1998 es zeigt Bill Clinton, Helmut Kohl und Bernhard Vogel
fehlt etwa in einer Broschüre der Landesregierung Thüringen
das Plakat im Publikum hinter dem Trio: »Ihr habt auch in
schlechten Zeiten dicke Backen.«
»Die Gefahr der Zensur liegt (...) vor allem
darin, dass ihre Mechanismen die Tendenz bergen, sich bei Erfolg
(...) unbeachtet und wie selbstverständlich auszuweiten. Besonders
wenn Aufmerksamkeit und Verständnis der Öffentlich-keit
fehlen (...), besteht die Gefahr, dass auch wirklich relevante Medien
und Äußerungsformen immer regressiver eingeschränkt
werden,« schrieb Seim 1997 in seiner Dissertation über
»zensorische Einflussnahmen auf bundes-deutsche Populärkultur«
(Untertitel). Seine Untersuchung »Zwischen Medien-freiheit
und Zensureingriffen« behandelt sehr ausführlich die
deutsche und bundesrepublikanische Zensur-Geschichte. Seims Befürchtung:
»Wer die Bilder und Texte beherrscht, die Produkte in einer
obskuren ðblack boxÐ weitgehend unbemerkt manipulieren kann,
hat die Macht.«
Licht in jenes Dunkel bringen die Ausstellung und
Bücher. Da in ihnen auch
Zensurfälle aus der Pornografie und dem Genre des Splatterfilms
dokumentiert
werden, empfiehlt der Verlag, sie Minderjährigen nicht zu überlassen.
Michael Klarmann
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