Interview von Dominik Irtenkauf mit Roland Seim, Verleger und Autor von Zensur-Büchern im Telos Verlag (Münster) im November 2004

 

1. Ihr Buch ist eines unter vielen, die sich mit Zensur beschäftigen. Sie und Ihr Ko-Autor Josef Spiegel verfolgen ein erfolgversprechendes Konzept: Sie gehen nicht von einer vorgefaßten Meinung aus, sondern dokumentieren in vielen Bildbeispielen eine Kulturgeschichte der zensierten Bücher, Platten, Filmen und auch Waren. Das Buch stieß auf ein großes Presseecho. Lassen sich im nachhinein noch Fehler finden?

Das Presseecho ist in der Tat groß und kommt erstaunlicherweise aus den unterschiedlichsten Kreisen. Die Bücher werden sowohl vom subversiven Splatter-Fanzine als auch von juristischen und akademischen Organen besprochen, wohl, da jeder Medieninteressierte eine Meinung zum Thema hat und sich die Aspekte herausgreifen kann, die ihm relevant erscheinen. Zwar gibt es eine ganze Reihe von - vorwiegend juristischen - Büchern zum Thema Zensur, aber unsere Publikationen sind insofern einzigartig, als sie es wagen, die zensierten, indizierten, verbotenen oder diskutierten Medienbeispiele anhand von Abbildungen zu dokumentieren und zu kommentieren. Im Idealfall stellen wir die zensierte Fassung der ursprünglichen Originalversion gegenüber. Dies bot sich vor allem bei "Nur für Erwachsene" an, wo wir Plattencover in Vorher-/Nachher-Situationen zeigen. Um die Fälle möglichst authentisch zu schildern, sind in den "Ab 18"-Bänden auch Faksimiles von Gerichtsurteilen, Beschlagnahmebeschlüssen, Indizierungsbegründungen und Auszügen aus historischen Verbotslisten wiedergegeben. Eine solche Fülle von unterschiedlichen Originalmaterialien zu fast allen Bereichen der Pop-Kultur bietet m.W. sonst kein Buch. Es wäre allerdings vermessen, einen komplettistischen Ansatz zu verfolgen, da auch wir nicht an alle Fälle herangekommen sind. Trotz möglichst gewissenhafter Recherche kann es aber schon sein, dass sich der ein oder andere Fehler eingeschlichen hat. Unfehlbar sind wir natürlich nicht.

2. In Kunsturteilen einen objektiven Standpunkt einzunehmen, ist nicht sonderlich einfach. Manche in Ihrem Buch abgedruckten Gerichtsurteile hinterlassen bei einem "gemischte Gefühle". Welche Kompetenzen sind für Sie unabkömmlich in Urteilen der Indizierung und Zensur?

Bereits die Frage nach der Definition von Kunst ist praktisch kaum endgültig zu beantworten. Da wundert es nicht, dass Richter oder Bundesprüfer auch überfordert sind. Leider maßen sie sich aber eine Definitionsgewalt an, die dann weitreichende Folgen hat, und den ungehinderten Zugang der gesamten Öffentlichkeit betrifft. Juristen und Jugendschützer greifen meistens einzelne "Stellen" eines Werkes heraus ("Dekontextualisierung") und konstruieren dann eine Wirkungsannahme. Der postulierte "Normalbürger" bzw. "gefährdungsgeneigte" Jugendliche wird dann zum Maßstab. Selten wird der Sachverstand von aufgeschlossenen oder zumindest objektiv-neutralen Gutachtern hinzugezogen. Diese sollten sich schon mit dem offenen Kunstbegriff, mit subkulturellen Theorien und unvoreingenommenen Wirkungsforschungen auskennen. Ein Blick über den Tellerrand kann auch nicht schaden. So hätten die Amtsrichter bei ihren Beschlagnahmebeschlüssen z.B. gegen Romeros Zombie-Filme wissen können, dass es sich dabei um international anerkannte Kulturprodukte handelt.

3. Zensur und Indizierung gelten als austauschbare Begriffe. Es gibt aber eine klare Unterscheidung. Wann spricht man von Zensur, wann von Indizierung und welche Rolle spielt dabei die Beschlagnahmung?

Zensur ist gewissermaßen der Oberbegriff, den wir nicht im formal-juristischen Sinne einer Vorzensur verwenden, sondern im erweiterten sozialwissenschaftlichen Hinblick, wo er die machtorientierte Verhinderung oder Veränderung von freier Kommunikation zwischen Sender und Empfänger beschreibt. Indizierungen sind Verwaltungsakte mit Dauerwirkung, die seit 1954 von der Bundesprüfstelle für jugendgefährende Medien (BPjM) verfügt werden (aktuell über 5.500). Sie betreffen nur Medienobjekte, die bereits erschienen sind und nach Ansicht der Bundesprüfer für Minderjährige nicht zugänglich gemacht werden dürfen. Es handelt sich also um ein Jugendverbot mit weitreichenden Vertriebsbeschränkungen wie z.B. einem Werbeverbot. Seit 2003 werden Indizierungen automatisch nach 25 Jahren wieder aufgehoben, es sei denn, die Jugendgefährdung besteht weiterhin fort. Beschlagnahmungen hingegen können nur Gerichte verfügen. Sie dienen zum einen der Beweismittelsicherung, zum anderen dazu, die inkriminierten Medienobjekte bundesweit polizeilich vom Markt zu nehmen (derzeit rund 550). Aus behördlicher Sicht handelt es sich weder bei der Indizierung noch bei der Beschlagnahmung/Einziehung um Zensur, sondern um Jugendschutz bzw. rechtsstaatliche Sicherung von öffentlichem Frieden und Ordnung, obwohl die Totalverbote auch für Erwachsene gelten.

4. Durch das Unterschlagen von problematischen Machwerken, die zuweilen auch wichtige künstlerische Neuerungen durchsetzen (vgl. hierzu die Prozesse um Henry Millers obszöne Romane, die Beatpoeten Burroughs und Ginsberg), wird eine Steuerung der Medienlandschaft bewußt in Kauf genommen. Die Indizierung beinhaltet ein Werbeverbot, was einem Verbot beinahe gleich kommt, denn ohne Werbung läuft auf dem überfüllten Kunstmarkt heute nichts mehr. Niemand erfährt von der problematischen Auseinandersetzung mit der Realität. Sie zeigen einige gängige Mechanismen des Mundverbots auf. Wie steht es de facto um die Meinungs- und Redefreiheit in einer demokratischen Gesellschaft?

Nun, unsere Bücher sollen nicht den Eindruck erwecken, als handele es sich bei Deutschland um eine Willkürherrschaft ohne Meinungs- und Kunstfreiheit. Allein die Tatsache, dass wir solche Dokumentationen veröffentlichen dürfen zeigt, dass es mit der Redefreiheit in unserer Demokratie so schlimm nicht bestellt ist. Für Medienschaffende sind Indizierungen und Beschlagnahmen zwar oftmals eine teure und ärgerliche Sache, und sie erschweren die Verbreitung von entspr. Medien, aber gänzlich vom Markt verbannt werden können sie nicht. Im Gegenteil wirken solche Maßnahmen kurzfristig als Werbung in Fankreisen. Langfristig allerdings überwiegen die Nachteile, da Inkriminiertes eigentlich nicht über wichtige Internet-Kanäle wie eBay und amazon gehandelt werden darf und häufig der Vergessenheit anheim fällt. Nicht zuletzt haben wir dagegen unsere Bücher veröffentlicht. Allerdings zeigt der historische Rückblick auch, dass zahllose wichtigen Bücher immer mal wieder auf irgendeinem Index standen, ohne dass sie dadurch in Vergessenheit gerieten. Man darf die nachhaltige Wirkung von Zensur auch nicht überschätzen.

5. Oft habe ich den Eindruck, daß die Betroffenen im Zensurstreit über wenig oder keinen Humor verfügen. Provokation ist ein beliebtes Stilmittel, um schlafende Geister in einer Gesellschaft aufzurütteln, den Massenstrom mit gezielten Stichen aufzuhalten. Wenn selbstverständlich Persönlichkeitsrechte betroffen werden, verstehen die Betroffenen wenig Spaß. Welchen Mittelweg sehen Sie zwischen der Kunstfreiheit und Schutz der eigenen Person oder des guten Rufs? Wie weit darf man gehen oder muß man überhaupt so weit gehen?

Das kommt drauf an, wie der Jurist sagt. Bei ausgemachter Satire sind die Grenzen weiter als etwa bei Sachbüchern, wo die Leserschaft davon ausgeht, ein objektives Bild geliefert zu bekommen. In letzter Zeit wurden zahlreiche Biographien verboten, da die Dargestellten sich in ihren Persönlichkeitsrechten verletzt sahen. Humor und Toleranz scheinen dort zu enden, wo die eigenen Empfindlichkeiten anfangen. Helmut Kohl etwa hat nie gegen Satiremagazine wie "Titanic" prozessiert, obwohl er seinerzeit auf jedem zweiten Titel verhohnepiepelt wurde. Erst als seine Frau Hannelore als Pin-up-Girl von "Penthouse" gezeigt wurde, klagte er. Dieter Bohlens Hervorbringungen nutzte der gerichtliche Rummel sogar als kostenlose PR-Aktion. Andere Fälle waren die Bücher über oder von Herbert Grönemeyer, Gloria von Thurn und Taxis, Reinhold Messner. Und selbst Romane können untersagt oder zensiert werden, wenn sich wie bei Maxim Billers "Esra" die Protagonistin als ungünstig wiedergegeben empfindet. Mit Klagen erreichen sie allerdings das genaue Gegenteil: die Werke werden erst so richtig bekannt. Wie weit man gehen darf oder sollte liegt m.E. an den Personen: Auf einen groben Klotz gehört schon mal ein grober Keil. Leute wie Bush merken dezente Ironie vermutlich gar nicht. Ob es allerdings Not tut, in Romanen die Ex-Geliebten namentlich in schlechtes Licht zu stellen, ist eher eine Frage des guten Geschmacks und Stils. Ich finde, Verfremdungen zum Schutz des anderen tun der künstlerischen Freiheit keinen Abbruch. Der Gang vor Gericht ist als ultima ratio meistens ungünstig.

6. Es besteht eine Kluft zwischen einer Subkultur, die einen eigenen künstlerischen Ausdruck sucht, und der etablierten "höheren" Kultur. Nun gibt es Stimmen, die diesen Graben klein oder als gar nicht vorhanden postulieren. Augenscheinlich rumoren im künstlerischen Underground Kräfte, die durch ihre Subversivität den Obrigkeiten leicht zum Verhängnis werden können. Zuweilen gewinnen diese Randerscheinungen große Verbreitung und Kultstatus, wie in den siebziger Jahren an den Sex Pistols schön zu sehen war, oder Mitte der Neunziger an Rammstein, die beide bewußt Tabus aufgegriffen und damit gespielt haben.
Meine Frage zielt nun auf die Zulässigkeit einer Außensicht, die versucht, subkulturelle Überzeugungen von einem ‚ideologisch verortbaren Standpunkt' aus zu bewerten. Ist in einem geöffneten Kunstverständnis eine juristische Definitionssuche von ‚lauterer Kunst' nicht paradox und führt zu Realitätsbeugung?

Sicher gibt es unterschiedliche Kulturformen, deren Unterschiede zwischen "E-" und "U-" sich aber angenähert haben, etwa wenn die Einstürzenden Neubauten für das Goethe-Institut touren und Zadek-Theaterstücke vertonen oder Christoph Schlingensief Wagner inszeniert. Auch ist richtig, dass gegen etablierte oder elitäre Kunstformen seltener juristisch vorgegangen wird, nicht zuletzt, da ihre Verbreitung gering ist. Aber welche subversiven Kräfte im künstlerischen Untergrund sollen das denn sein, die der Obrigkeit zum Verhängnis werden können? Ich sehe da keine Strömung, die eine solche Kraft besitzt. Und hoffen wir, dass es in der rechten Ecke auch so bleibt. Richtig ist allerdings, dass die Machthaber immer darauf aus sind, ihre Vorzugsstellung und ihre Normen- und Wertvorstellungen zu bewahren. Eine Methode, die bislang immer besser funktioniert hat als jedes gerichtliches Verbot, ist sozusagen die Assimilation von subversivem Potenzial durch Marktmechanismen. Sei es die Hippie-Bewegung der Sixties oder die Punks seit den späten 70er Jahren: die Headhunter der Kulturindustrie saugten stets die Strömungen auf und adaptierten sie zu harmlos lustigen Modetrends. Selbst die Schockästhetik von Splatter- und Pornofilmen tauchte plötzlich als chic im Mainstream auf, sei es in Form von großen Hollywood-Produktionen, in der Werbung, in Video-Clips oder in der Fashion-Welt. "Repressive Toleranz" nannte das die Kritische Theorie um Herbert Marcuse. Wenn die Protestinsignien selbst in Kaufhauskatalogen feilgehalten werden, verkommt der Stachel im Fleisch des Kapitalismus zum sinnfreien Accessoire. Dummerweise ist das Hakenkreuz eines der wenigen "Logos", das als verbotenes Symbol diese für jeden Deppen verständliche gefährliche Irritationskraft noch besitzt. Vermutlich dürfte es deswegen so beliebt in gewissen Kreisen sein. Doch bei dieser Form der Subkultur scheiden sich die Geister, denn niemand kann ernsthaft wollen, dass den Feinden von Freiheit und Demokratie eben diese Freiheit zugebilligt wird.

7. Der Einfluß der Medien ist gewaltig. Pädagogen bekommen es mit der Angst zu tun, wenn sie in einem Kinderzimmer die Fülle an Tonträgern, Computerspielen und Videokassetten/DVD's finden. Der Zugang zur Information wird durch die Möglichkeiten der Vervielfältigung und technischen Verbreitung sehr erleichtert. Eine Medienkompetenz wäre in diesem Fall eine adäquate Lösung, die einen selbstbewußten Umgang auch mit problematischem Inhalt erlaubt. Scheinbar widersprechen aber diverse Fälle einer solchen Verantwortung; die Empirie straft das Ideal Lügen.
Worin könnten nach Ihrer Meinung die Gründe liegen, daß Entscheidungsträger die Schuld bei den Medien und nicht bei den Benutzern derselben suchen?

Das sehe ich anders. Die Empirie sagt, dass es zwar bedauerliche Einzelfälle von sog. "medieninduzierter Delinquenz" (W. Glogauer) à la Robert Steinhäuser gibt. Aber die überwältigende Mehrheit der (jugendlichen) Mediennutzer mutiert eben nicht zu triebgesteuerten Axtmördern und soziopathischen Amokläufern. Vielleicht kann man mit gewalthaltigen Medien auch die vorhandenen dunklen Seiten in effigie abreagieren. Verbote sind in einer globalisierten Welt der Informationsströme eh kaum durchsetzbar, sondern steigern die Neugier. Natürlich kann es nicht darum gehen, sich aus der Verantwortung zu stehlen, alles zu produzieren, was einen Markt findet, und das dann jedem zugänglich zu machen. Jugendschutz hat in gewissen Maßen auch positive Seiten. Förderung der Medienkompetenz und des kritischen Urteilsvermögens ist allemal sinnvoller als Restriktionen. Allerdings auch schwieriger und langwieriger. Ein neues Gesetz, ein neues Verbot sind schnell gemacht. Aufklärung hingegen ist mühsam. Historisch und global gesehen dürfte Religion der Hauptgrund für die meiste Gewalt sein. Aber es würde nichts nutzen, den Leuten ihren Glauben an welchen Gott auch immer zu verbieten, solange nicht die damit zusammenhängenden Probleme gelöst sind.

8. In der Zeit, als der Buchdruck aufkam, fürchteten gewisse Kräfte in der Hierarchie um ihre Stellung, da sie bald einsahen, daß das geschriebene Wort, mit Bild unterzeichnet, mit zunehmender Alphabetisierung der Gesellschaft kritisches und damit gefährliches Potential entwickeln konnte. Es wurden Erlasse (zum Beispiel der Index librorum prohibitorum der katholischen Kirche) ausgegeben, die ein zu freies Wort unterbinden sollten.
Heute artikuliert sich diese Beschneidung der freien Meinungsäußerung anders: die Heranwachsenden müssen besonders geschützt werden, und der "wilde Dschungel" der Medien muß dementsprechend beschnitten, Breschen in das wilde Treiben geschlagen werden. Auf der anderen Seite stehen verfassungsfeindliche Inhalte.
Wie kann man in diesem unüberschaubaren Produzieren und Konsumieren Richtlinien verabschieden? Allen wird man es sowieso nicht recht machen können.

Bei jedem neuen Medium fürchtet die jeweilige Obrigkeit einen Machtverlust, da sie nun kein Definitionsmonopol mehr hat. Schriftkundige Untertanen können plötzlich womöglich Unbotmäßiges veröffentlichen und rezipieren. Diese Angst konnte man nach Erfindung des Buchdrucks Mitte des 15. Jahrhunderts ebenso beobachten wie seit Einführung des Internet in den 1990er Jahren. Unkontrollierbare, rechtsfreie Gebiete sollte es nirgendwo geben. Zwar existiert der Index Romanus der katholischen Kirche nicht mehr, aber die Listen der Bundesprüfstelle gibt es immer noch. Diese Bundesoberbehörde versteht sich sozusagen als Fels in der Brandung, der sich schützend vor die lieben Kleinen stellt, um das Schlimmste zu verhindern. Ob diese Bewahrpädagogik noch zeitgemäß ist, erscheint mir fraglich. Denn nicht zuletzt nutzen die Kids eben diese als "Einkaufslisten". Schwer zu sagen, wie man da die notwendigen Grenzen ziehen soll. Unser Grundgesetz ist schon ein wirklich gutes Instrument des friedlichen Zusammenlebens. Der Meinungsfreiheitsartikel 5 hat immer noch einen hohen Stellenwert, auch wenn die Verbote etwa von vielen Horrorfilmen skurril erscheinen. Ich würde mir einen entspannteren und kundigeren Umgang mit devianten oder disparaten Medieninhalten wünschen. Doch dazu braucht man nicht die Gesetze zu ändern, sondern diejenigen schulen, die damit umgehen. Bei vielen verfassungsfeindlichen Inhalten - z.B. in rechtsradikalen Songs - wird reflexhaft reagiert, ohne nach dem Grund für solche Unmutsäußerungen zu fragen. Aber natürlich gibt es auch für mich Grenzen des Tolerierbaren.

9. Ein viel herbeizitierter Grund, der die durch das GG gewährleistete Kunstfreiheit in der Urteilsfindung ausschließt, ist das Argument der leichten Unterhaltung, wobei Splatterfilme und extreme Musikrichtungen sich stets im Nachteil vor Gerichten befinden, weil Gerichte als judikative Einrichtungen, die am Gemeinwohl interessiert sind, Special-Interest-Publikationen nicht ausreichend honorieren können.
Ist nun aber der Kunstbegriff bei Richtern und bei der Bundesprüfstelle (BPjM) nicht einem heteronomen Zweck untergeordnet, kann Kunst möglicherweise nicht in ihrem innewohnenden Wert anerkannt werden? Ein Blick in solche Prozesse zeigt oft nur, daß das Ideal eines mündigen Bürgers noch in weiter Ferne liegt, da sich ein Großteil der Bevölkerung mit einem mundgerecht zubereiteten Inhalt zufriedengibt. Oft ist die Form wichtiger als der Inhalt, da Medien oft der Zerstreuung dienen sollen.

Stimmt, Pop-Kultur und Special-Interest-Medien haben es schwerer als Mainstream oder Elitärkunst, da beim ersteren die womöglich gefährliche Verbreitung groß und das Publikum sehr heterogen ist, während Nischenprodukte oftmals für Außenstehende kaum nachvollziehbare Codes haben. So ist es etwa ziemlich schwer, besorgten Jugendschützern die markigen Sprüche von "Gangsta-Rappern" zu erklären. "Street Credibility" versus Bewahrpädagogik. Ähnlich beim subversiven Humor von Splattermovies. Als Filme wie "Zombie", "Braindead", "Tanz der Teufel" und "Blood Feast" verboten wurden, kam es den Richtern mehr auf die Anzahl der rollenden Köpfe, denn auf den comicartig überzeichneten Humor an. Was dem Massengeschmack widerspricht, hat auch leider nur eine kleine Lobby, was es vor Gericht nicht einfacher macht. Mit einer autonomen oder gar objektiven Kunstdefinition sind Juristen in aller Regel überfordert, auch wenn sie sich gelegentlich Mühe geben. Solange aber die Mehrheit der Menschen, auf die es in einer Demokratie nun einmal ankommt, das ok findet, solange wird sich daran nicht viel ändern. Fernsehen als Kaugummi fürs Hirn, Kunst als Wanddekoration, ein Mozart-Remix als Fahrstuhl- und Kaufhausmuzak. Selig sind die im Geiste Armen, steht ja schon in der Bibel.

10. In unserer Gesellschaft fallen nach dem postmodernen Anything-goes-Prinzip immer mehr Tabus. Man fragt sich, welche Werte noch vorhanden sind, welche Rolle dabei Medien und Kunst bei der Reifung des Individuums spielen. Eine wenig praktikable Lösung scheint das generelle Verbot des "schlechten Geschmacks" zu sein, da dadurch keine Änderungen im Konsumverhalten auf längerfristige Sicht erreicht werden können. Es gibt Mittel und Wege, auch Verbotenes zu beschaffen. Stimmen, die eine Selbstbeschränkung verlangen, werden in den letzten Jahren immer lauter.
Welchen Weg sehen Sie, der Sie sich viel mit Grenzfällen der Meinungsfreiheit beschäftigt haben?

Jeff Koons' altes Motto "Gib den Leuten, was sie wollen, bis sie kotzen" scheint sich angesichts solcher TV-Formate wie "Big Brother" oder "Dschungel-Camp" zu bewahrheiten. Wirkliche Tabus werden dabei allerdings nicht gebrochen. Die Medien würden sich nie selbst in Frage stellen, und etwa die Frage, wie sie es verantworten könnten, angesichts globaler Klimakatastrophen, Kriege, Umweltzerstörung, Hunger und Ungerechtigkeit die Leute mit solch einem Quatsch zu verblöden. Das wäre mal ein Tabubruch, wenn sich Dirk Bach hinstellte, und die wirklichen Probleme anspräche. Aber dann wäre er als Spielverderber und Quotenkiller vermutlich seinen Job los. Theoretisch haben Medien eine große Macht, die Leute auch zum Guten beeinflussen zu können. Aber wenn man sich ansieht, wie wenig Kultursendungen geschaut werden, und wie leicht sich mit Blödsinn Geld machen lässt, desto mehr beschleicht mich ein Kulturpessismus. Mit Verboten kriegt man das aber nicht hin. Und Selbstbeschränkung hört sich so asketisch und uncool an. Selbst der "gute Geschmack" muss irgendwie sexy daherkommen, sonst läuft das wohl nicht. Harald Schmidt war in seinen reiferen Sendungen da m.E. auf einem guten Weg. Statt als "Dirty Harry" den x-ten Polenwitz zu Tode zu reiten, zelebrierte er theatermäßige Sendezeitverschwendung auf hohem Niveau. Aber selbst das erreichte weniger als eine Mio. Zuschauer.

11. An der Zensur kann man sehr schön den Wandel des Zeitgeists nachzeichnen. Was in früheren Jahrzehnten als problematisch galt, gilt heute als gesellschaftskonform. Auf welche Gründe sind Sie gestoßen, wenn es um die Veränderung des Geschmacks geht? Möglicherweise brechen alte Krusten durch eine Erforschung der menschlichen Tiefen auf. Es wäre, besonders was die Medienkompetenz angeht, ein integrativer Zugang vorteilhaft, weil er die Schattenseite menschlichen Lebens nicht ausblendet.

Zeitgeist und Wertewandel gehören zusammen. Alles fließt, und zwar wellenförmig; will heißen, nicht unbedingt nur in die Richtung des immer Libertinäreren, sondern mit Rückbesinnungen auf traditionelle Werte. Es muss einem einen "Kick" geben, "fresh" und "cool" sein. Das kann dann auch schon mal ein Retro-Trend sein, wo dann bei "Bad Taste-Events" bis auf Weiteres deutsche Schlager hip sind. Aber zurück zur eigentlichen Frage: Früher waren es meistens Jugendbewegungen, die verkrustete Strukturen hinterfragten und aufbrachen, z.B. durch den Rock'n'Roll in den 50er Jahren oder die Studentenrevolte der 68er. Da war eine Provokation noch relativ leicht, da Staat und Gesellschaft als spießig gesehen wurden und es wohl auch waren, wie die zahlreichen Verbote und Zensurfälle belegen. Derzeit sehe ich allerdings keine Jugendbewegung, die innovative oder kreative Alternativkonzepte hat. Und wenn man bedenkt, dass die meisten Indizierungen und Verbote Musik rechtsextremer Bands betreffen, schwant mir nichts Gutes. Auch die Love-Parade der hedonistischen HipHop-Fun-Generation hat sich überlebt. Vielmehr ist die junge Generation zersplittert in sehr viele Kleinstgruppen, die sich ihr jeweils passendes Weltbild eklektizistisch kompilieren, aber kaum wahrgenommen werden, wie etwa der Social-Beat. Da passt ein bisschen Buddhismus durchaus zu Extasy und Bild-Zeitung. Ich vermute, heute sind die Medien das große Vorbild. Gut aussehen, Spaß haben, cool rüberkommen. Die großen Fragen kommen in profanem Gewand daher. Sinnsuche im Dschungel-Camp, Todeserfahrung bei "Doom", Existenzangst angesichts von Hartz IV. Das mögen zwar Schattenseiten sein, aber die großen Probleme werden so kaum gelöst.

12. Welche Rolle spielt die Selbstzensur? Ist es nicht so, daß man bei drastischen Sanktionen Gefahr läuft, eine verwässerte Kunst zu fördern, die aus Angst vor Beschneidungen kein kritisches Wort oder Bild zuläßt? Daß man dazu übergeht, nur noch "massenkonforme und konsensuale" Kunst zuzulassen, weil sie am wenigsten aneckt?

Die größte und am schwierigsten nachzuweisende Zensur dürfte durch das Postulat der Wirtschaftlichkeit ausgeübt werden. Was sich nicht verkauft, wird nicht gemacht oder eingestellt. Langeweile ist das eigentliche Tabu. Ohne Quote kein Programm, wie z.B. Anke Engelke feststellen musste. Man ist immer weniger bereit, schwergängige Experimente zu wagen. Staatliche Zensur greift sich meistens nur pars pro toto ein paar krasse Beispiele heraus, um Exempel von eher symbolischen Wert zu statuieren. Das kann auch ausstrahlen und zu Selbstzensur bei anderen führen. Aber da es nur relativ wenige staatliche Stellen gibt, bei denen man vor der Veröffentlichung seine Werke vorlegen muss (z.B. die FSK), führen eher die Marktmechanismen selbst zu einer massenkompatiblen Kultur. Und solange das die Leute klaglos konsumieren, solange ist eben auch geistiger Geiz geil.

13. Zum Abschluß noch die Frage nach der Rolle des Bildes im Bereich der Zensur: Filme und Comics veranschaulichen besonders eindrücklich die verbotenen Seiten des Menschen. Bücher und Schriften sind da eher umständlicher, so daß auch die Indizierung bei Filmen und Comics schneller zuschlägt, als bei Literatur. Besonders dann auch, wenn die Autoren geschickt subversiv vorgehen und die anstößigen Inhalte eher verdeckt gehalten werden.
Meine Frage hierzu: Zeigt die Geschichte der Zensur in demokratischen Staaten nicht auch eine Öffnung des Blicks? Bei Horrorfilmen verdeckt man oft die Augen mit der Hand, und doch ist der Reiz übermächtig, die Hand zu heben. Drücken möglicherweise schwarze Balken genau dasselbe aus?

Es stimmt, dass Bücher vergleichsweise selten zensiert, indiziert oder verboten werden. Und wenn, dann geschieht das eher per Zufall. Es gibt Horrorromane, deren werkgetreue Verfilmung vermutlich rasch vom Markt genommen würde. Die affirmative Kraft der Bilder scheint in den Augen der Sittenhüter immer noch eine größere Gefahr zu bergen, als Texte, die die Phantasie ansprechen. Schon in den Gründerzeiten des "Kintopp" galten die Lichtspiele als Vergnügen der Armen und Ungebildeten auf den Rummelplätzen. Comics hatten anfangs (und gelegentlich bis heute) den Ruf von Kinderverblödern, da sie zu Analphabetentum führen könnten. Diese Gefahr besteht heutzutage wohl eher durch die SMS-Generation, deren Aufmerksamkeitsspanne diese maximal 459 Zeichen kaum noch übersteigt, und das bei gleichzeitiger Reizüberflutung in allen Medien. Die Erweiterung des Blickes könnte eine gute Sache sein; die Frage ist nur, ob wir noch verstehen was wir alles erfahren. Suchmaschinen sind leider keine Sinnmaschinen. Das eigene Denken kann einem niemand abnehmen. Wenn die Beschäftigung mit Zensureingriffen dazu führt, über die Medieninhalte, deren Entwicklung und die Veränderung der Grenzen und Werte nachzudenken, dann hat Zensur zumindest etwas Gutes. Und nicht zuletzt möchten wird diese Diskussion mit unseren Büchern anstoßen.
Weitere Infos unter: www.telos-verlag.de

Vielen Dank Herr Dr. Seim für dieses ausführliche Interview.


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