So, jetzt gibt's exklusiv hier
das ungekürzte Interview mit dem Soziologen und Kulturhistoriker
Dr. Roland Seim. In einer kürzeren Form, bei der es generell
um Videospielzensur und Verbote geht, findet es sich auch auf der
"Jungen Seite" des MZV. Hier aber mal die komplette Version:
1. Was glauben Sie, inwiefern das Verbot der so genannten Killerspiele
sinnvoll ist.
Dr. Roland Seim: Verbote sind immer der einfachste Reflex bei Überforderung.
Da aber weder die Medien noch das Konsumbedürfnis damit aus
der Welt geschaffen sind, schüren sie eher die Neugier. Im
liberaleren Ausland, im Internet oder bei ebay.com sind solche Spiele
ja weiterhin erhältlich. Globalisierte Informationsströme
sind kaum zu kontrollieren, es sei denn, die Herstellerindustrie
entschärft selbst die Sachen. Letztlich kann alles, was das
Belohnungssystem im Gehirn so reizt, wie es Ballerspiele offenbar
tun, süchtig machen. Die Menge macht das Gift. Prohibition
und Alkohol hat nicht funktioniert. Ob es bei Killerspielen klappt?
Mir erscheint eine Förderung der Medienkompetenz und Kulturtechniken
sinnvoller als weitere Gesetze und Verbote.
2. Wie schätzen Sie die gegenwärtige Zensur-Situation
in der BRD ein?
Seim: Auch wenn unsere Medienfreiheit international gesehen vergleichsweise
groß ist, so gibt es derzeit doch etwa 5.000 Indizierungen
der Bundesprüfstelle und rund 600 gerichtliche Totalverbote
von Filmen, Büchern, Tonträgern, PC-Spielen etc. wegen
so genannter "sozialschädlicher" Inhalte. Das hat
eine hohe Symbolwirkung, ist doch Deutschland einer der größten
Märkte. Die Unterhaltungsindustrie will keinen Ärger mit
den Behörden und entschärft lieber im Veröffentlichungsvorfeld
oder lässt Gewagteres sein. Selbst die Schweizer Kantonspolizei
nutzt deutsche Verbotslisten bei der Verfolgung von "Brutalo-Filmen".
Freilich vermeiden Rechtsstaaten den Begriff Zensur. Vielmehr begrenzen
Jugendschutz, Strafrecht, Kontrollgremien, Zoll und Gerichte die
mediale Spielwiese.
3. Ist Ihrer Meinung nach die BPjM in den letzten Jahren liberaler
geworden?
Seim: Jugendschutz bedeutet ja nicht gleich Zensur. Nicht alles
ist für alle geeignet. Meistens werden rechtsextreme Inhalte
indiziert. Die Bundesprüfstelle treibt die Sorge um das Wohl
der Halbwüchsigen um. Aber selbst bei der BPjM wirken sich
Zeitgeist und Wertewandel aus, wenn sie z.B. "Counterstrike"
oder CDs von "50 Cent" nicht indiziert. Andererseits zeigen
Entscheidungen etwa gegen Aggro-Rapper, diverse Sex- oder Okkultbücher
und Computerspiele, dass die alten Prinzipien der Bewahrpädagogik
immer noch vorherrschen.
4. Warum findet die mittlerweile widerlegte Katharsis-These immer
noch Zuspruch in der Öffentlichkeit.
Seim: Medienwirkungstheorien sind schwer zu beweisen oder zu widerlegen,
u.a. da vergleichende Langzeituntersuchungen kaum möglich sind.
Man kann Laborbedingungen schlecht auf alltägliche menschliche
Verhaltensweisen übertragen, die nicht monokausal zu erklären
sind. Wer weiß schon, wie viele Verbrechen eben nicht verübt
wurden, weil das Aggressionspotenzial in anderer Form abreagiert
wurde, oder zu wie vielen Vergewaltigungen es nicht kam, da es Prostitution
gibt. Der Sinn von Ventilsitten, zu denen auch Karneval, Sportveranstaltungen
und Rock-Konzerte zählen, ist, gesellschaftlich geduldet "die
Sau rauslassen" zu können. Pech für "Ego-Shooter",
dass die sensibilisierte Öffentlichkeit sie z. Zt. nicht dazu
zählt, sondern im Umkehrschluss fürchtet, dass hier aus
Fiktion Realität wird. Die Millionen von verhaltensunauffälligen
Spielern sind kaum keine Schlagzeile wert. Only bad news are good
news.
5. Würde eine Reform des Schulsystems mögliche Amokläufe
wie in Erfurt verhindern können?
Seim: Mitmenschlichkeit, Empathie und Zukunftsperspektiven stehen
selten auf dem Lernplan. In Erfurt wirkten viele ungünstige
Faktoren zusammen, bis hin zum Verweis ohne irgendein Abschlusszeugnis.
Ein verbessertes Schulsystem - z.B. mehr Ganztagsschulen, Lehrerfortbildungen,
höhere Bildungsetats usw. - wäre ein richtiger Schritt.
Ähnlich wichtig scheint mir aber auch eine Optimierung von
Kinderbetreuung und Unterstützung durch Tagesmütter vor
allem von Eltern in Problemsituationen zu sein. Finnland z.B. erzielt
damit gute Erfolge, wie nicht nur die PISA-Studien zeigen. Einzelne
Verzweiflungstaten lassen sich aber leider nie verhindern.
6. Wie ist Medialog entstanden und was sind die Ziele und Arbeitsweisen
des Vereins?
Seim: Repressive, aber angesichts des Internet häufig sinnlose
bzw. unwirksame Jugendschutzmaßnahmen gaukeln eine Sicherheit
vor, lösen aber kaum die Probleme beim Umgang mit Medieninhalten.
Ein Ziel von Medialog e.V. ist es, Medienkompetenz zu fördern,
aber auch Vorurteile und Berührungsängste zu verringern.
Wir möchten einen Dialog von Eltern und Kindern, von Pädagogen
und Medienwissenschaftlern ermöglichen, damit sie wissen, womit
sie es zu tun haben und wo mediale Stärken und Schwächen
liegen. Dazu setzen wir auf Aufklärungsarbeit über das
Internet, auf Tagungen und Seminaren. Der Medialog e.V. gründete
sich in Zeiten vorschneller Rufe nach undifferenzierten Verboten
aus der Notwendigkeit heraus diesen zu begegnen, nicht zuletzt,
um Medien zu entmystifizieren und einen sinnvollen Umgang nachhaltig
gewährleisten zu können. www.medialog-ev.de
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