Eröffnungsrede zur Loretta Lux-Ausstellung "Erfindung des Seins" am 27.7.2003 im Stadtmuseum Münster

 

 

Loretta Lux: "Study of a Boy 1"

"Study of a Boy 1"

Ilfochrome © 2002 Loretta Lux

Vom Pinsel zum Pixel - Die geheimnisvollen Bildwelten der Loretta Lux

"Ich mache schöne Bilder, weil ich an der Hässlichkeit der Welt leide", kommentiert die preisgekrönte Münchner Künstlerin ihre Arbeiten.

Doch sind die digital nachbearbeiten Fotografien nicht nur einfach schön, sondern irritieren den Betrachter durch fast magisch anmutende Arrangements. Suggestiv und merkwürdig teilnahmslos blicken uns ihre Protagonisten - Kinder zwischen zwei und neun Jahren - an. Mit der lustigen Teletubbies-Welt herkömmlicher Kinderfotos haben ihre Portraits nichts zu tun.

Zum einen konterkariert Lux das Klischee von unbeschwerter Kindheit, zum anderen definiert sie das Genre der Portrait-fotografie neu: Während der Laie mit zufällig geknipsten Schnappschüssen à la Pixie-Fotos Erinnerungen festhalten will, und der Profi-Fotograf die möglichst wirklichkeitsgetreue Dokumentation oder effektvolle Wiedergabe des Sichtbaren anstrebt, ist es Loretta Lux' Ziel, mit inszenatorischem Willen neue Bildwelten zu schaffen. Damit erfüllt sie Wilhelm Worringers Anspruch von "Kunst als selbständigem Organismus" (in: Abstraktion und Einfühlung, 1908). Sie abstrahiert von dem Persönlichen der dargestellten Kinder, greift schöpferisch manipulativ ein. Dadurch verwandeln sie sich in Symbole; es entsteht eine gewisse Leere im Ausdruck, eine Projektionsfläche für unbestimmte Gefühle, ein Raum für Assoziationen, den jeder Betrachter anders füllen kann.

Bereits der Ausstellungstitel "Erfindung des Seins" nimmt Bezug auf die Philosophie (speziell die Metaphysik). Dort bedeutet Sein nicht nur reales Dasein, Existenz einer Person in der Welt, sondern auch "Ideales Sein" im Sinne von dessen Wesen jenseits von Zeit und Wirklichkeit.

Eigentlich hat Lux Malerei bei Prof. Gerd Winner in München studiert, was nicht nur ihre Arbeitsweise, sondern auch die kunsthistorischen Reminiszenzen etwa an die Renaissance oder die Romantik erklärt. Erinnerungen an die ernsten Kinderbilder von Velázquez bis Runge aber auch an die Effekte von Manierismus und Surrealismus schwingen mit, ohne dass Lux direkt zitiert. Von der Malerei kommend entdeckte sie vor vier Jahren die Digitalfotografie als ideales Medium für ihre kühle Ästhetik. Statt Farbschichten aufzutragen und mühsam wieder abzukratzen, ermöglicht ihr der Computer, monatelang an der gewünschten Wirkung ihrer Bilder zu feilen und unterschiedliche Entwicklungsstadien zu vergleichen. Wegen des aufwändigen Verfahrens der Bildfindung - von der Auswahl der Modelle, über die Komposition und Inszenierung der Settings, bis hin zur Nachbearbeitung vergehen oft mehrere Hundert Stunden Arbeit - veröffentlicht sie nur fünf bis sechs Werke pro Jahr. Letztlich nähert sie sich dem gemalten Bild von einer anderen Seite durch ein modernes Medium an. Über ihre Mischtechnik möchte Lux nur soviel verraten, dass sie Fotografie, Malerei und Digitaltechnik miteinander verwebt.

Loretta Lux erhebt ihre Foto-Arbeiten in den Rang von Kunstwerken, da hier - ähnlich wie bei der Malerei mit ihrem schaffenden, kreativ verändernden und handwerklichen Charakter - ein originäres, zielbewusstes Schaffen vorliegt. Nur, dass sie vor allem Pixel statt Pinsel verwendet.

Diese Schöpfungen führen nicht nur die traditionelle Bildgläubigkeit an die Wahrheit von Fotos, an den authentischen Augenschein, ad absurdum. Auch das Hegel'sche Postulat von der Nachahmung, der Überführung des Naturschönen in das erhabene Kunstschöne wird obsolet. War die Gleichung Fotografie = Realismus schon immer fragwürdig, so ist bei Lux Irritation bewusster Bestandteil ihrer Inszenierungen. Digitale und malerische Eingriffe sind nicht mehr als solche erkennbar; sie gehen in einer neuen Wirklichkeit auf, übertreffen das Ergebnis des aktuellen Momentes. Denn selbst der Vorteil von Digitalfotografie - das "quick and easy" - kommt nicht zum Tragen.

Auf den ersten Blick suggerieren ihre präzisen, hyperrealistisch anmutenden Portraits, die objektive Wahrheit wiederzugeben. Aber trotz ihres Detailreichtums brechen bei genauer Betrachtung Risse im virtuellen Illusionismus auf. Nicht nur manch manierierte Pose macht stutzig; auch die gemalten, farblich und stilistisch auf den Personentypus abgestimmten Hintergründe und Requisiten lassen vermuten: Irgendetwas scheint nicht zu stimmen. Selbst die Kleider sind nicht zeittypisch, sondern stammen entweder aus der Kindheit der Fotografin oder wurden von ihr eigens angefertigt. "Aus den realen Kindern werden fiktive Konstrukte, meine eigenen Schöpfungen", formuliert die 1969 in Dresden geborene Künstlerin ihr Programm. Oft erkennen selbst die Eltern ihren Nachwuchs auf dem endgültigen Bild kaum noch wieder, stellt sie fest.

Und in der Tat wirken die Dargestellten etwa auf den Arbeiten "Study of a Girl" und "Study of a Boy" seltsam verloren, traumwandlerisch entrückt, elfenartig zerbrechlich wie Bisquitporzellanpuppen, die einem David-Lynch-Film entstammen könnten. Es umgibt sie eine Aura des Rätselhaften, Unwirklichen. Hypnotisch, ernst bis traurig blicken sie uns an; spontan fragt man sich nach den Gründen dieses für Kinder untypischen Verhaltens, und denkt bei den befremdlich verfremdeten Schöpfungen einer zweiten Natur unwillkürlich an genmanipulierte Klone. "Die Schnittstelle zwischen Informations- und Biotechnologie wird virulent in der digitalen Bildmanipulation", schreibt Ulrike Lehmann im "Kunstforum" (Band 158, 2002).
Statt um das Individuelle geht es Lux vielmehr um das Unbewußte zwischen Traum und Realität, um den Menschen "in nuce". In ihren kargen Seelenlandschaften transportieren Kleinkinder, die vom Leben noch wenig manipuliert sind, unbewusst eine Ahnung von den Einflüssen des späteren Erwachsenenlebens. Dabei will Loretta Lux die Kindheit nicht glorifizieren. Vielmehr schwingt in ihren Bildern das Gefühl von Verletzlichkeit und Unzulänglichkeit mit, das Kinder in der Erwachsenenwelt erleben. Lux empfand es als Strafe, ihre Kindheit in der deprimierenden und grauen DDR verbringen zu müssen. Doch Biografismus erklärt selten den Reiz von Kunstwerken.

Ihre vergeistigten Kinderportraits umgibt ein mystischer Zauber jenseits von aller Süßlichkeit. Vielmehr zeugen sie von Mysterium und Vergänglichkeit des Seins. Szenen, die einem Märchen entnommen zu sein scheinen, wie die in den gemalten Hintergrund des Bildes "Study of a Boy" gekratzte Skizze eines Schlosses andeutet. Wenn, dann dürfte es ein Märchen von Andersen oder Hauff sein, denn fröhlich spielende Kinder sehen wir auf keinem Bild. Stattdessen geben die alabasterfarbenen Gesichter ihr Geheimnis nicht preis. Sie sind Kunstprodukte mit einer eigenen Transzendenz, welche die Erwartungshaltung der Betrachter konsequent unterlaufen.

Zum Abschluss dieser kurzen Einführung zitiere ich die Künstlerin: "Meine Fotografien handeln von Kindheit und Verlorenheit in der Welt als existenzielle Grunderfahrung des Menschen. Ich untersuche das widersprüchliche und spannungsreiche Verhältnis von Selbst und Welt."

Ich bedanke mich bei Loretta Lux und der Friedrich-Hundt-Gesellschaft (speziell ihrem Geschäftsführer Olaf Mahlstedt) für die Einladung und danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.



Dr. Roland Seim M.A.
Kunsthistoriker, Soziologe und Verleger

 

Wiedergabe des obigen Bildes mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin. Weitere Abbildungen ihrer Arbeiten und Texte finden sich auf ihrer Website: www.lorettalux.de

 

 

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