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"Study of a Boy 1"
Ilfochrome © 2002
Loretta Lux
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Vom Pinsel zum Pixel - Die geheimnisvollen Bildwelten
der Loretta Lux
"Ich mache schöne Bilder, weil ich an der
Hässlichkeit der Welt leide", kommentiert die preisgekrönte
Münchner Künstlerin ihre Arbeiten.
Doch sind die digital nachbearbeiten Fotografien nicht nur einfach
schön, sondern irritieren den Betrachter durch fast magisch
anmutende Arrangements. Suggestiv und merkwürdig teilnahmslos
blicken uns ihre Protagonisten - Kinder zwischen zwei und neun Jahren
- an. Mit der lustigen Teletubbies-Welt herkömmlicher Kinderfotos
haben ihre Portraits nichts zu tun.
Zum einen konterkariert Lux das Klischee von unbeschwerter Kindheit,
zum anderen definiert sie das Genre der Portrait-fotografie neu:
Während der Laie mit zufällig geknipsten Schnappschüssen
à la Pixie-Fotos Erinnerungen festhalten will, und der Profi-Fotograf
die möglichst wirklichkeitsgetreue Dokumentation oder effektvolle
Wiedergabe des Sichtbaren anstrebt, ist es Loretta Lux' Ziel, mit
inszenatorischem Willen neue Bildwelten zu schaffen. Damit erfüllt
sie Wilhelm Worringers Anspruch von "Kunst als selbständigem
Organismus" (in: Abstraktion und Einfühlung, 1908). Sie
abstrahiert von dem Persönlichen der dargestellten Kinder,
greift schöpferisch manipulativ ein. Dadurch verwandeln sie
sich in Symbole; es entsteht eine gewisse Leere im Ausdruck, eine
Projektionsfläche für unbestimmte Gefühle, ein Raum
für Assoziationen, den jeder Betrachter anders füllen
kann.
Bereits der Ausstellungstitel "Erfindung des Seins" nimmt
Bezug auf die Philosophie (speziell die Metaphysik). Dort bedeutet
Sein nicht nur reales Dasein, Existenz einer Person in der Welt,
sondern auch "Ideales Sein" im Sinne von dessen Wesen
jenseits von Zeit und Wirklichkeit.
Eigentlich hat Lux Malerei bei Prof. Gerd Winner in München
studiert, was nicht nur ihre Arbeitsweise, sondern auch die kunsthistorischen
Reminiszenzen etwa an die Renaissance oder die Romantik erklärt.
Erinnerungen an die ernsten Kinderbilder von Velázquez bis
Runge aber auch an die Effekte von Manierismus und Surrealismus
schwingen mit, ohne dass Lux direkt zitiert. Von der Malerei kommend
entdeckte sie vor vier Jahren die Digitalfotografie als ideales
Medium für ihre kühle Ästhetik. Statt Farbschichten
aufzutragen und mühsam wieder abzukratzen, ermöglicht
ihr der Computer, monatelang an der gewünschten Wirkung ihrer
Bilder zu feilen und unterschiedliche Entwicklungsstadien zu vergleichen.
Wegen des aufwändigen Verfahrens der Bildfindung - von der
Auswahl der Modelle, über die Komposition und Inszenierung
der Settings, bis hin zur Nachbearbeitung vergehen oft mehrere Hundert
Stunden Arbeit - veröffentlicht sie nur fünf bis sechs
Werke pro Jahr. Letztlich nähert sie sich dem gemalten Bild
von einer anderen Seite durch ein modernes Medium an. Über
ihre Mischtechnik möchte Lux nur soviel verraten, dass sie
Fotografie, Malerei und Digitaltechnik miteinander verwebt.
Loretta Lux erhebt ihre Foto-Arbeiten in den Rang von Kunstwerken,
da hier - ähnlich wie bei der Malerei mit ihrem schaffenden,
kreativ verändernden und handwerklichen Charakter - ein originäres,
zielbewusstes Schaffen vorliegt. Nur, dass sie vor allem Pixel statt
Pinsel verwendet.
Diese Schöpfungen führen nicht nur die traditionelle Bildgläubigkeit
an die Wahrheit von Fotos, an den authentischen Augenschein, ad
absurdum. Auch das Hegel'sche Postulat von der Nachahmung, der Überführung
des Naturschönen in das erhabene Kunstschöne wird obsolet.
War die Gleichung Fotografie = Realismus schon immer fragwürdig,
so ist bei Lux Irritation bewusster Bestandteil ihrer Inszenierungen.
Digitale und malerische Eingriffe sind nicht mehr als solche erkennbar;
sie gehen in einer neuen Wirklichkeit auf, übertreffen das
Ergebnis des aktuellen Momentes. Denn selbst der Vorteil von Digitalfotografie
- das "quick and easy" - kommt nicht zum Tragen.
Auf den ersten Blick suggerieren ihre präzisen, hyperrealistisch
anmutenden Portraits, die objektive Wahrheit wiederzugeben. Aber
trotz ihres Detailreichtums brechen bei genauer Betrachtung Risse
im virtuellen Illusionismus auf. Nicht nur manch manierierte Pose
macht stutzig; auch die gemalten, farblich und stilistisch auf den
Personentypus abgestimmten Hintergründe und Requisiten lassen
vermuten: Irgendetwas scheint nicht zu stimmen. Selbst die Kleider
sind nicht zeittypisch, sondern stammen entweder aus der Kindheit
der Fotografin oder wurden von ihr eigens angefertigt. "Aus
den realen Kindern werden fiktive Konstrukte, meine eigenen Schöpfungen",
formuliert die 1969 in Dresden geborene Künstlerin ihr Programm.
Oft erkennen selbst die Eltern ihren Nachwuchs auf dem endgültigen
Bild kaum noch wieder, stellt sie fest.
Und in der Tat wirken die Dargestellten etwa auf den Arbeiten "Study
of a Girl" und "Study of a Boy" seltsam verloren,
traumwandlerisch entrückt, elfenartig zerbrechlich wie Bisquitporzellanpuppen,
die einem David-Lynch-Film entstammen könnten. Es umgibt sie
eine Aura des Rätselhaften, Unwirklichen. Hypnotisch, ernst
bis traurig blicken sie uns an; spontan fragt man sich nach den
Gründen dieses für Kinder untypischen Verhaltens, und
denkt bei den befremdlich verfremdeten Schöpfungen einer zweiten
Natur unwillkürlich an genmanipulierte Klone. "Die Schnittstelle
zwischen Informations- und Biotechnologie wird virulent in der digitalen
Bildmanipulation", schreibt Ulrike Lehmann im "Kunstforum"
(Band 158, 2002).
Statt um das Individuelle geht es Lux vielmehr um das Unbewußte
zwischen Traum und Realität, um den Menschen "in nuce".
In ihren kargen Seelenlandschaften transportieren Kleinkinder, die
vom Leben noch wenig manipuliert sind, unbewusst eine Ahnung von
den Einflüssen des späteren Erwachsenenlebens. Dabei will
Loretta Lux die Kindheit nicht glorifizieren. Vielmehr schwingt
in ihren Bildern das Gefühl von Verletzlichkeit und Unzulänglichkeit
mit, das Kinder in der Erwachsenenwelt erleben. Lux empfand es als
Strafe, ihre Kindheit in der deprimierenden und grauen DDR verbringen
zu müssen. Doch Biografismus erklärt selten den Reiz von
Kunstwerken.
Ihre vergeistigten Kinderportraits umgibt ein mystischer Zauber
jenseits von aller Süßlichkeit. Vielmehr zeugen sie von
Mysterium und Vergänglichkeit des Seins. Szenen, die einem
Märchen entnommen zu sein scheinen, wie die in den gemalten
Hintergrund des Bildes "Study of a Boy" gekratzte Skizze
eines Schlosses andeutet. Wenn, dann dürfte es ein Märchen
von Andersen oder Hauff sein, denn fröhlich spielende Kinder
sehen wir auf keinem Bild. Stattdessen geben die alabasterfarbenen
Gesichter ihr Geheimnis nicht preis. Sie sind Kunstprodukte mit
einer eigenen Transzendenz, welche die Erwartungshaltung der Betrachter
konsequent unterlaufen.
Zum Abschluss dieser kurzen Einführung zitiere ich die Künstlerin:
"Meine Fotografien handeln von Kindheit und Verlorenheit in
der Welt als existenzielle Grunderfahrung des Menschen. Ich untersuche
das widersprüchliche und spannungsreiche Verhältnis von
Selbst und Welt."
Ich bedanke mich bei Loretta Lux und der Friedrich-Hundt-Gesellschaft
(speziell ihrem Geschäftsführer Olaf Mahlstedt) für
die Einladung und danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Dr. Roland Seim M.A.
Kunsthistoriker, Soziologe und Verleger
Wiedergabe des obigen Bildes mit freundlicher Genehmigung
der Künstlerin. Weitere Abbildungen ihrer Arbeiten und Texte
finden sich auf ihrer Website: www.lorettalux.de
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