Gutachterliche Stellungnahme von Roland Seim
bezüglich des Indizierungsantrages
gegen drei Rap-CDs aus dem Label Aggroberlin

 
Dr. phil. Roland Seim M.A. · Im Sundern 7-9 · 48157 Münster
www.rolandseim.de


Münster, den 02.03.2004

Stellungnahme:

Bei den verfahrensgegenständlichen CDs "Aggro Berlin Ansage Nr. 1, 2 und 3" handelt es sich um Kompilationen von Songs unterschiedlicher Interpreten aus dem populärkulturellen Genre der aktuellen deutschen Rap-Musik.

Alle drei Tonträger weisen zweifellos durchaus Stücke auf, die für den szenefremden unvorbereiteten Hörer ein erhebliches Irritationspotenzial bergen.

Um die jugendgefährdende Valenz beurteilen zu können, sollten die Äußerungen indes in den signifikanten Entstehungszusammenhang und die spezifischen Jargons und Attitüden der Zielgruppen-Szene eingeordnet werden.

Sowohl die Musiker als auch viele der Hörer entstammen einem depravierten Milieu der Straße (in diesem Fall Berlins). Rap als musikalisches Ausdrucksmittel der HipHop-Kultur unterliegt gerade in den Gettos diversen Codes, denen sich die Teilnehmer bedienen müssen, um dazu zu gehören bzw. um sich von anderen Gruppen abgrenzen zu können. Vor allem "coole" Musik und Texte sowie entsprechende Dress- und Verhaltenscodes spielen als wichtige Identifikationsmöglichkeiten der Kids eine große Rolle bei der Selbstfindung, bei der Initiation innerhalb dieser differenzierten Subkulturen. Für Außenstehende, die Inhalte wortwörtlich nehmen, sind Habitus und Posen missverständlich.

Vulgärsprache und betontes Macho-Gehabe ("Großkotzigkeit") können als Zeichen für die sog. "Street Credibility" (die Glaubwürdigkeit auf der Straße, in der Gang oder Clique) gewertet werden. Zudem dürfte es sich dabei um pubertätsimmanente Aggressionsphantasien handeln.

Ähnlich wie im Wortschatz berühmter US-Rapper wie Eminem oder 50 Cent gehört zum "Style" dazu, gesellschaftlich tabuisierte "krasse" Worte in möglichst origineller oder massiver Kombination als Zeichen eigener Stärke und Glaub-würdigkeit zu verwenden. Während bei fremdsprachigen Songs durch ihre mehr oder weniger latente Unverständlichkeit häufig über fragwürdige Inhalte hinweg gesehen wird, fallen diese bei deutschsprachigen Erzeugnissen naheliegenderweise ungleich intensiver auf. Statt "Motherfucker", "Bitch" oder "Cunt" heißt ein deutscher Rap dann schon mal "Arschficksong". Erfahrungen der ersten Sexualkontakte können dann nicht in romantisch verbrämten Balladen wie z.B. im deutschen Schlager (etwa Roland Kaiser: "Manchmal möchte ich schon mit dir") behandelt werden, sondern bedürfen eindeutiger und möglichst kräftiger Zeichen. Dass erste zwischenmenschliche Sexualität bereits (wie in dem Song geschildert) oft schon mit 13 Jahren stattfinden, ist in der Literatur (z.B. bei Nabokovs "Lolita") bekannt und mag - vor allem in der geschilderten Form - als ein bedenkliches Zeichen fehlender elterlicher Fürsorge oder allgemeinen Sittenverfalls gesehen werden. Doch die Jugendlichen, die solcherlei erleben und in eine im weitesten Sinne künstlerisch-kreative Form von Sprechgesang und Musik bringen, sind dabei ebensowenig als Verursacher dieser Missstände zu sehen, wie diejenigen, die sie hören - sondern beide Gruppen dürften eher als Resultate (wenn nicht gar Opfer) gedeutet werden.

Unerwünschte Zustände existieren, und man wird sie kaum dadurch verbessern können, indem man die Hervorbringungen der Involvierten, die sich damit befassen, untersagt. Zudem wecken Verbote eher die Neugier. Auch wenn die Inhalte für viele Erwachsene Besorgnis erregend sind, sollte es m.E. erlaubt sein, davon zu singen und sich anderen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben, mitzuteilen. Die gemeinsame Teilhabe würde durch eine Indizierung der CDs weitgehend unterbunden werden; die Bands und Konzertveranstalter könnten bei Nichteinhaltung kriminalisiert werden. Dies dürfte angesichts vieler frei zugänglicher rechtsextremer Texte anderer Bands bei den Rap-Fans auf Unverständnis stoßen und die Jugendpflege in ihren Augen unglaubwürdig erscheinen lassen, die oftmals eher die Symptome als die Ursachen (wie z.B. fehlende Ausbildungsplätze, Jugendheime, Aufmerksamkeit und Verständnis) bekämpft.

Diese Form des Rap kann als Ventilsitte für den Umgang bei der Konfrontation mit einer sozialen Umwelt, die den Jugendlichen immer weniger Entwicklungsräume und Perspektiven bietet, interpretiert werden. Rap mag als - durch den oftmals restringierten Code der Betroffenen häufig als unbeholfen oder anstößig empfundenen - Reaktion auf eine in vielen Punkten suboptimale Jugendarbeit gesehen werden können, die es nicht schafft, die Kids sinnvoll zu beschäftigen. Aber durch das Indizieren der Folgen dieser Entwicklung bestraft man vielmehr in effigie diejenigen, die den jugendlichen Musikern durch das Aufnehmen und Vertreiben dieser Tonträger eine Chance auf Akzeptanz und Anerkennung über ihre eigene begrenzte Primärebene hinaus verschaffen können.

Von außen gesehen handelt es sich beim sog. "Battle-Rap" schon um befremdliche (z.T. pornografische oder gewalthaltige) Inhalte, die aber mehr als "attitude" und Floskeln dienen und kaum wortwörtlich genommen werden dürfen. Wenn ein Rapper z.B. davon spricht, dass sein "Song brennt wie Benzin", dann bedeutet das etwas anderes, als für den Hörer, der mit diesem Jargon nicht vertraut ist.

Berücksichtigt man, dass auch starke und z.T. entsetzliche Bilder - wie z.B. in Bret Easton Ellis' Roman "American Psycho" - als grundgesetzlich schützenswerte Kunstäußerungen gelten, dann möchte ich meinen, dass innerhalb der relativ neuen und zeitgemäßen Musikrichtung des Rap ein Erprobungsspielraum für die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Grenzbereichen zugestanden werden könnte.

 

Dr. Roland Seim
Kunsthistoriker und Kultursoziologe

 

 

Nachtrag: Genutzt hat diese Stellungnahme leider nicht wirklich viel. Anfang Dezember 2004 indizierte die Bundesprüfstelle die CD "Ansage Nr. 3", in erster Linie wegen des Stückes "Neger bums mich"; am 31.5.2005 wurden auch "Ansage Nr. 2" (wegen der Songs "Pussy" und "Psycho Neger B") sowie "King of Kingz" von Bushido indiziert. Die Begründung zur Nicht-Indizierung von "Nr. 1" und zur Indizierung von "Nr. 2" ist abgedruckt in "BPjM-Aktuell", Heft 3/2005, S. 3-7 bzw. S. 7-13. Außerdem indizierte die Bundesprüfstelle am 30.9.2005 "AGGRO Ansage Nr. 4", "Maske" von Sido, "Obscuritas Eterna" von MC Basstard und "Vom Bordstein bis zur Skyline" von Bushido. Am 31.1.2007 kamen dann auch die Aggro-CDs "Mixtape 90210" von Fler und "Der neue Standard" von Beathoavenz auf den Index, sowie "Berliner Schnauze" von Bass Sultan Hengzt (Murderbass). Insgesamt haben derzeit rund 20 HipHop-Alben ein Jugendverbot.

Siehe auch tagesschau.de und dpa z.B. merkur-online.de sowie Deutsche Welle (engl.)
Siehe auch das Interview mit Fler bei SPIEGEL-ONLINE

Link zur Aggro-Site

Link zur HipHop-Site mzee.com

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